Teenager treffen heute nur noch selten Zeitzeugen der Hitlerzeit. Dennoch ist vielen die Erinnerung an die Nazi-Gräuel wichtig. Am Holocaust-Gedenktag reinigten Hildesheimer Schüler "Stolpersteine" - und erzählten, was sie mit der NS-Zeit verbinden.

Hildesheim (epd). Ausgerüstet mit Schwämmen und Politur steuern sechs Schüler ein Rechteck aus Messingplaketten im Gehweg vor einem Wohnhaus an. Kalter Nieselregen fällt, während der Berufsverkehr vorbeirauscht. Jannis Dill (15) holt einen Zettel hervor und liest aus dem Lebenslauf einer Frau vor, die hier vor mehr als achtzig Jahren lebte: „Julie Palmbaum wurde am 23. Juli 1942 ab Hannover-Ahlem, Bahnhof Fischerhof, nach Theresienstadt deportiert, wo sie umkam.“

Schueler des evangelischen Gymnasiums Andreanum in Hildesheim reinigen am Holocaust-Gedenktag „Stolpersteine“ am Michaelisplatz (Bild vom 27.01.23). An der Aktion beteiligten sich die Schuelersprecher (von links) Lou Hannig, Linus Klante, Lina Teichmueller, Jannis Dill, Yola Moebius und Paul Wolter.  Foto: epd-bild/Christian Gossmann



Die Jugendlichen sind Schülersprecher des evangelischen Gmynasiums Andreanum. Zusammen mit allen Zehntklässlern ihres und drei weiterer Gymnasien in Hildesheim sind sie an diesem 27. Januar ausgezogen, um die 182 „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig im Stadtgebiet zu reinigen. In die mit Messingblech bedeckten Betonwürfel sind die Namen und Lebensdaten von Menschen hineingeschlagen, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Mehr als 95.000 dieser Steine wurden mittlerweile in 21 Ländern Europas verlegt.

 




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Auch am Andreanum seien Menschen Opfer von Verfolgung geworden, erklärt Linus Klante (18), während seine Mitschüler das Messing vom grauen Schleier befreien. „Auch deshalb ist es unsere moralische Pflicht, an diese Zeit zu erinnern.“ Jannis ergänzt, dass seine Generation angesichts der Nazi-Verbrechen zwar weder Schuld noch Scham empfinde. Doch die Erinnerung sei nötig, damit sich die Geschichte nicht wiederhole. „Wehret den Anfängen“, darum gehe es. Linus wirft ein, dass es dafür fast schon zu spät sei, und verweist auf den NSU und den Aufstieg der AfD.

Zwei Geschichtslehrerinnen des Andreanums, Astrid Buhrmester-Rischmüller und Jennifer Nomrowski, haben die Aktion an diesem Holocaust-Gedenktag organisiert. Ziel sei es, die Schüler an der Erinnerungskultur teilhaben zu lassen, sagt Nomrwoski. Jannis gibt zu bedenken: „Wir sind die erste Generation, die nahezu ohne Zeitzeugen aufwächst.“ Die Erinnerungskultur befinde sich daher in einer kritischen Übergangsphase. Tatsächlich empfinden die Teenager den familiären und persönlichen Bezug zur Hitlerzeit als eher schwach. Die Erinnerung an die Vorfahren spielt nach ihren Aussagen zu Hause keine große Rolle.

 



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So hat Lina Teichmüller (18) „keinen persönlichen Bezug“ zur NS-Zeit, wie sie sagt. Ihre Eltern hätten ihr aber schon als Kind von diesem deutschen Kapitel deutscher Geschichte erzählt. „Als ich noch sehr jung war, waren wir in Berlin beim Holocaust-Mahnmal. Ich finde das erschütternd, was damals passiert ist.“ Umso mehr freue es sie, dass die Stolpersteine in Hildesheim jetzt wieder ein echter Blickfang seien.

Lou Hannig (19) hingegen berichtet nicht ohne Stolz, dass ihre Urgroßmutter im Widerstand gewesen und dafür umgebracht worden sei. „Sie hat versucht, persönliche Gegenstände von KZ-Häftlingen durch den Zaun hindurch ins Lager hineinzuschmuggeln. Das weiß ich aus einem Tagebucheintrag.“ Was die Uroma zum Widerstand motiviert hat, kann die Schülerin jedoch nicht genau sagen. Sie vermutet einen kirchlichen Hintergrund.

Zur großen Pause kehren die Jugendlichen wieder ins Andreanum zurück. Henriette Jost (15) stellt zufrieden fest: „Die Steine waren vorher eher unscheinbar. Jetzt stolpern die Passanten wieder darüber.“

Alle Text- und Bildrechte: Evangelischer Pressedienst (epd)- Urs Mundt / Fotos(5): epd-bild/Christian Gossmann